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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2021, 12:13 Uhr
Themengruppe | Exzerpte |
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Behandeltes Werk |
Wie uns der Titel bereits verrät, handelt es sich bei dem Artikel „The Religious Traveller in the Edo Period“, der 1984 in der Zeitschrift Modern Asian Studies in einer Spezialausgabe namens „Edo Culture and Its Modern Legacy“ erschienen ist, um eine Analyse des durchschnittlichen Pilgers in der Edo-Zeit. Die Autorin, Carmen Blacker, untersucht hierfür genauer den sehr asketischen Lebensstil der Mönche zu dieser Zeit, sowie die damaligen Umstände, unter denen man zu dieser Zeit eine Pilgerreise machen konnte. Obwohl vieles davon vermutlich eher abschreckend als einladend gewirkt haben muss, kann die Edo-Periode einen gewaltigen Zuwachs an Pilgern aufweisen. Um das zu Begründen, zieht Blacker Parallelen zwischen dem gewöhnlichen Pilger und dem yūgyōsha, dem asketischen Reisenden.
Die historische Entwicklung der Pilgerreisen vor der Edo-Zeit
Vor 1600 waren Pilgerreisen in Japan sehr selten. Im Laufe der Heian-Zeit erfreuten sie sich mehr und mehr Beliebtheit unter dem Adel (kizoku-sankei), doch hatte das ‚einfache Volk’ noch wenig Interesse daran; Tagebucheinträge aus dem zehnten Jahrhundert deuten auf einen Kanon hin, der sich aus Besuchen des Kiyomizudera, des Hasedera und des Ishiyamadera zusammensetzte. Im elften und zwölften Jahrhundert wurde auch Kumano zu einem beliebten Pilgerziel, was vor allem durch die häufigen Besuche der drei Kaiser Shirakawa (neun Mal), Toba (achtzehn Mal) und Go-Shirakawa (vierunddreißig Mal) ausgelöst wurde. Im Zuge des Genpei-Kriegs starb diese kurze Beliebtheit des Pilgerns allerdings wieder aus und lebte erst wieder in der Edo-Zeit auf. (Blacker 1984:594-595) Bis dahin waren es fast ausschließlich die yūgyōsha, die aus religiösen Gründen auf Reisen gingen.
Yūgyōsha
Der typische Pilger der Edo-Zeit lässt sich laut Blacker auf die sogenannten yūgyōsha, die asketischen Reisenden, zurückführen. Sie waren auch bekannt unter den Namen hijiri, ubasoku oder yamabushi und existierten in Japan bereits seit der Nara-Zeit. Meist nach einem bestimmten Ereignis, einer Vision oder Ähnlichem, entschieden sie sich für ein Leben voller Buße und begaben sich auf ihre Reise, um aus dem alten Leben auszubrechen und einen Neuanfang zu starten. Es handelte sich dabei um permanente Reisen: Der yūgyōsha kannte kein Zuhause, war ständig unterwegs und verweilte allerhöchstens für einige Zeit in Grashütten oder Steinhöhlen, seltener für eine kurze Zeitspanne in Gasthäusern. Ihr Lebensstil zeichnete sich durch verschiedene Rituale aus, wie spezielle Essensvorschriften (z.B. mokujiki, das alleinige Essen von Baumfrüchten), das Rezitieren bestimmter Worte und Sutren (z.B. nenbutsu), oder das lange Stehen unter Wasserfällen. Auch das ständige Umherwandern war, wie die eben genannten Rituale, unbedingt mit dem Lebensstil der yūgyōsha zu verbinden, der laut Blacker vermutlich nur in Japan aufzufinden war. Ziel war es, den Status eines ikigami, einer lebenden Gottheit, oder den des sokushin-jōbutsu, ein Buddha im gegenwärtigen Körper, zu erlangen. (Blacker 1984:593-597)
Durch die oben genannten Rituale wurden den yūgyōsha spezielle Kräfte zugesprochen: Während ihren Aufenthalten in Dörfern sollen sie für das Wohlergehen der Einwohner gesorgt haben, allerdings auch beispielsweise beim Bau von Brücken oder Straßen geholfen haben. Darüber hinaus konnten sie durch eigenes Leid die Sünden anderer Menschen begleichen (metsuzai). (Blacker 1984:596)
Weiters weist Blacker darauf hin, dass durch all diese Fähigkeiten und Tätigkeiten und, nicht zu vergessen, durch das ständige Wandern, der religiöse Reisende keinen richtigen Platz in der Gesellschaft hatte und somit zum Außenseiter wurde. Diese Bezeichnung des ‚Außenseiters’ besitzt eine gewisse Ambivalenz, da es einerseits seinen Status als „wandelnde Gottheit“, beziehungsweise „Gefährt einer Gottheit“ ausdrückt, der ihn von den anderen Menschen abhebt. Auf der anderen Seite ist der ‚Außenseiter’ allerdings auch mit einem negativen Beigeschmack zu verstehen – ein Mensch, der schlechter ist, als alle anderen. (Blacker 1984:602-603)
Um Beispiele für den oben beschriebenen Lebensstil der yūgyōsha zu nennen, beschreibt Blacker drei historische Persönlichkeiten genauer:
- Tansei Shōnin (1570-1613), dem sowohl fünf kami, als auch Amida persönlich erschienen sein sollen, während er lange Zeit in einer Höhle lebte. Er soll bereits als Kind auf Reisen gegangen sein, den nenbutsu ständig auf den Lippen, und erreichte schließlich nach Amidas Erscheinen den Zustand des sokushin-jōbutsu.
- Enkū, der besonders durch seine geschnitzten Holzstatuen Buddhas auffiel. Durch die Fundorte dieser Statuen, verteilt auf ganz Honshū und auch in Hokkaidō, lässt sich darauf schließen, dass er äußerst viel gereist ist.
- Jitsukaga Gyōja (1843-1884), der nach seiner Begegnung mit der Gottheit Ryūō seine Frau und Familie verließ und zu seiner unendlichen Reise aufbrach. Seine „asketische Karriere“ gipfelte darin, dass er sich während der zazen-Meditation den großen Wasserfall von Nachi hinunterstürzte. (Blacker 1984:598-601)
Der gewöhnliche Pilger in der Edo-Zeit
Blacker fragt sich, nach näherer Betrachtung des Lebens der yūgyōsha, wie es dazu kommen konnte, dass in der Edo-Periode auch gewöhnliche Bauern oder Handwerker ihre Heimat verließen, um an einen bestimmten Ort zu pilgern. Einerseits waren die Bedingungen, was Infrastruktur betrifft, weitaus weniger gefährlich als die Jahre zuvor, jedoch versuchten die han das Pilgern so gut es ging zu unterdrücken. Im Zuge dessen gab es beispielsweise gewisse Restriktionen bezüglich der Dauer, wie lange eine Reise dauern durfte, oder, wie viele Personen auf einmal reisen durften. In manchen han wurde das Pilgern sogar völlig untersagt, sowie bestimmte Routen festgelegt wurden, die man auf der Pilgerreise nicht verlassen durfte. Sinn dahinter war, so wenig Zeit wie möglich auf einer Reise zu verbringen, sodass man schnell wieder in die Heimat zurückkehren konnte, um seinen eigentlichen Platz in der Gesellschaft wieder einnehmen zu können. Diese Maßnahmen blieben jedoch ohne Erfolg, da die Menschen einfach ohne Pass oder Erlaubnis aufbrachen und ihre Pilgerreise durch Betteln und Almosen trotzdem bewältigen konnten. (Blacker 1984:604-605)
Im Volk hingegen erfreuten sich die Pilger größerer Akzeptanz: Man konnte immerhin nicht sicher sein, ob es sich bei einem religiösen Reisenden nicht um eine Gottheit oder gar um die Reinkarnation des Kōbō Daishi handelte. Um kein Risiko einzugehen, wurden die Pilger meist gut versorgt, und es entwickelte sich der Brauch settai, nach dem man Pilgern Essen, kostenlose Übernachtung, Sandalen und Medizin anbot. (Blacker 1984:606)
Blacker sieht hier eine Parallele zwischen dem yūgyōsha und dem ‚gewöhnlichen’ Pilger in der Edo-Zeit: Bei beiden handelt es sich um ‚Außenseiter’, die sowohl negativ, als auch positiv aufgefasst werden. Wenn sich also hier eine Ähnlichkeit finden lässt, dann womöglich auch in den Beweggründen, zum Pilgern aufzubrechen. Somit kommt Blacker zu dem Schluss, dass das Zuhause, das ursprünglich als Zufluchtsort wirkte, in der Edo-Zeit durch Gebote und Verbote der han diese Funktion mehr und mehr verlor, und auch die Last auf dem einzelnen schwerer wurde. Diese Umstände waren die besten Vorraussetzungen für einen Zuwachs an Pilgern: Um vor dieser Welt voller Vorschriften in eine andere Realität in Freiheit zu flüchten, begannen die Menschen, zu reisen und sich aus dem gesellschaftlichen Zwang, zumindest temporär, zu befreien. Womöglich waren es sogar ähnliche Gründe, die die Menschen, als auch die yūgyōsha dazu bewegten, diese Reise anzutreten, denn:
„The pilgrimage is the external counterpart of an inner journey towards a centre within.“ (Blacker 1984:608)